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19. März 2011

Bald anders

Das Leben ist schön.

Simplicissimus

Als ich im letzten Jahr erfuhr, dass an meinem Geburtstag der Mitbegründer der Band Ougenweide, Frank Wulff, im Alter von gerade mal 57 Jahren verstorben war, war ich gerade dabei, mich über ein neues Ougenweide-Album zu freuen, beinahe 15 Jahre nach dem vorangegangenen, dem grandiosen „Sol“. Ich glaube, „Sol“ kam damals nicht so besonders gut bei den meisten Ougenweide-Fans an, da es viele elektronische Klänge aufwies. Ich jedoch hatte es über die Jahre immer lieber gewonnen, denn die Songs waren einfach zu gut und die Gesänge der a-capella-Gruppe Time Of Roses waren einfach himmlisch. Doch dazu später mehr.

Wie ich vermutlich schon oft, ja viel zu oft, erwähnt habe: 2010 war ein ziemlich scheußliches Jahr für mich. Aus mehreren Gründen war mein Geburtstag ein emotionaler Tiefpunkt. Mir war so gar nicht danach zu Mute etwas zu feiern. Mich selbst schon gleich gar nicht. Ich wäre mir wie ein Betrüger vorgekommen. Mir ging einfach zu viel im Kopf herum. Ich konnte nicht einfach so tun, als wäre nichts. Stattdessen flüchtete ich mich in ein romantisches Eifelstädtchen und versuchte, meine Gedanken zu ordnen. Nein, bitte kein Mitleid. Mir geht es gut.

Als ich allerdings kurz darauf das Album „Herzsprung“ von Ougenweide bekam, da musste dieses sofort in meinen Player wandern. Ich riss also ungeduldig das Cellophan vom schönen DigiPak auf, und das erste, was mir entgegen rutschte, war das Booklet und darauf in großen (ja, lasst es uns ruhig mit Douglas Adams sagen: in großen beruhigenden) Buchstaben war zu lesen: DAS LEBEN IST SCHÖN.

Wow.


Zwei meiner besonderen Schätze: Das Zweitausendeins-Liederbuch und die LP-Box, die ich mir einige Jahre vor der Wiederveröffentlichungen auf CD ersteigert habe.
Foto: Asp privat

Daraufhin wollte ich natürlich mehr wissen über dieses neue Album und dessen Entstehung, ja, ich hegte sogar die Hoffnung, dass es vielleicht eine kleine Tournee zu dem neuen Album geben könne…? Und das, nachdem ich mir schon vielfach in den Allerwertesten gebissen hatte, das Reunion-Konzert in Hamburg 2004 verpasst zu haben.
Statt Tourdaten fand ich jedoch die Meldung von Frank Wulffs Tod.

Nun kommt etwas, das sich evtl. recht merkwürdig liest, denn ich kann natürlich nicht behaupten, ihn gekannt zu haben, deshalb empfand ich meine schockartige Trauer als ein wenig unangemessen. Zudem ich ohnehin 2010 insgesamt recht nahe am Wasser gebaut war. Aber diese Nachricht berührte irgend etwas anderes unter meinen tiefsten Rindenschichten: Ich empfand es als fürchterlich unfair und fühlte mich zudem um einen Teil meiner Kindheit betrogen.

Um dieses Gefühl zu ergründen, muss ich ein wenig weiter ausholen: Ich begegnete der Band Ougenweide zum ersten Mal, als ich ungefähr sechs, sieben Jahre alt war. Ich wurde als Kind von meiner Familie, vor allem von meinen beiden Onkels, mit Musik gefüttert. Das prägte mich zugegebenermaßen extrem in meinen Hörgewohnheiten und vermutlich auch in meiner Art, ans Liederschreiben heranzugehen. Ich fürchte, es ist heute (auch von mir) schwer zu nachzuvollziehen, welche Akzeptanz ungewöhnliche Songstrukturen mit den ganzen Prog-Rock-Strömungen in den 70ern weltweit genossen haben und wie open-minded auch Mainstream-Hörer im Vergleich zu heute teilweise waren. Anfang der 80er Jahre änderte sich das Ganze, und bis auf einige wenige Bands, die sich geschickt anzupassen verstanden (z.B. Jethro Tull, Pink Floyd), wich vieles aus dem Bereich Art- und Progrock einer neuen, absichtlich forcierten Oberflächlichkeit im Pop. Viel wichtiger für meine persönliche Entwicklung war jedoch, dass aus diesen Strömungen gerade in Deutschland eine Menge interessanter Bands entstanden, die ganz selbstverständlich auf Deutsch sangen. Als ich später selbst anfing, Musik zu machen, war das out! Englisch war zu DER Musiksprache der Welt hochstilisiert worden. Klar, es gab trotzdem immer deutschsprachige Bands, auch in den 80ern, aber ich gebe zu, dass ich mit vielen Deutschrockbands so meine Probleme hatte und noch heute (teils völlig ungerechtfertigt) immer noch habe.

Was hat das alles mit Ougenweide zu tun? Gar nicht mal so viel, denn selbst aus der Masse von „Krautrockgruppen“, die mir zu Ohren kamen, ragten Ougenweide mit ihrer damals ziemlich revolutionären Idee, sich mit mittelalterlichen Liedern zu beschäftigen und Texte oder Thematiken aus dieser Epoche zu vertonen, heraus. Das faszinierte mich unglaublich. Von den teils ungehörten, für mich völlig unbekannten Instrumenten, deren Klang meines Erachtens nur darauf gewartet hatte, für Rockmusik verwendet zu werden. Bombarde? Schwirrholz? Bitte was? Lieder auf mittelhochdeutsch? Bitte wie?

Lange Rede, kurzer Sinn: Ich war verliebt. Schon mit sieben. Und natürlich war dies deshalb eine unschuldige, reine und verklärte Liebe, denn so wunderbar zart und engelsgleich Minne Graws Stimme aus dem rotierenden Vinyl stieg, wie deftig es auch teilweise in der Schilderung „Im Badehaus“ zuging oder die Jungfern zum Klagen aufgefordert wurden, um das Ende ebendieser zu beweinen: Die angedeutete Erotik blieb mir noch etliche Jahre ein Geheimnis. Ich war gerade mal sieben. Ich hatte von Tuten und Blasen (oder Schalmeien) ja keine Ahnung. Aber ich liebte es.
Und so bekam ich Zugang zu Minnesang. Wie passend.



Ougenweide in meinem Bücherschrank. Ich bin wohl ein richtiger Fan.
Foto: Asp privat.

Ich weiß natürlich, dass es von keinerlei Bedeutung ist, ob ein kleiner Gruftimusiker aus Frankfurt Fan einer Band ist oder nicht, wenngleich ich hier gestehe, dass ich vor einigen Jahren einen kleinen Dankesbrief per E-Mail an das O-Tonstudio der Brüder Wulff zu schicken mich innerlich gezwungen fühlte. Aber seltsamerweise, immer wenn die Sprache bei Musiker-Kollegen auf Ougenweide kommt, weiß irgendwie jeder Bescheid und zeigt sich begeistert.

Ich bin hundertprozentig und felsenfest davon überzeugt, dass es die ganze neue Mittelalterrock-Szene, die sich Mitte der 90er Jahre bildete, ohne Ougenweide so nicht gegeben hätte. Und das liegt schon allein daran, dass viele der angeblich mittelalterlichen Melodien so gar nicht existiert hatten, sondern von einer gewissen Hamburger Folkrock-Band komponiert worden waren.

Es gibt eine Handvoll von Melodien, die für mich einen unsterblichen Charakter besitzen; Lieder, die mich über Jahre (ja, teilweise Jahrzehnte!) immer mit unglaublicher Stärke berühren. Ich habe sie für mich ganz privat „Haunting Tunes“ getauft. Einige davon durfte ich bisher schon für mich selbst verarbeiten, wie zum Beispiel „Fünf Söhne“ in „Die Ballade von der Erweckung“ oder „The Maid of Culmore“ in „Mein Herz erkennt dich immer“. Eine weitere dieser unsterblichen Melodien hat Frank Wulff geschrieben, so zumindest steht es in allen Booklets von Ougenweide. Die Rede ist selbstverständlich von den „Merseburger Zaubersprüchen“.
Diese „Haunting Tunes“ kann ich an meinen beiden Händen abzählen und alle haben eine große Bedeutung für mein Empfinden und mein Leben.
Allein dies mag verständlich machen, warum mich die Nachricht von Frank Wulffs Tod sehr traf.

Zudem hatte ich, wie oben beschrieben, das Gefühl, ein Teil meiner Kindheit müsse damit ebenfalls dahinschwinden. Ich hatte immer irgendwie gehofft, dass der enorme Stellenwert von Ougenweide doch noch einmal gewürdigt würde, ja, die Band noch einmal tatsächlich den Superstatus erreichen würde, den sie in meinen Ougen immer verdient hatte. Das war natürlich trotz später vereinzelter Anerkennung nicht so. Und ich glaube, das ist so auch nicht möglich. Denn die Lieder von Ougenweide zeichneten sich durch eine Verspieltheit und eine mutige Öffnung zu allen möglichen Musikstilen aus, die sich nie durchsetzen konnten oder viele Nachahmer fanden. Es waren immer die gleichen Teile, die verklärte Sicht des Mittelalters und die das Herunterbeten der immer gleichen Beschwörungen (sie erkennen, wie meine eigene Nase schon wund ist und rot leuchtet, vom vielen selbst daran Greifen?) und Zaubersprüche, die vor allem übernommen wurden. Aber das ist eben das traurige Schicksal und gleichsam die Ehre der Vorreiter.


Schon seit vielen Jahren wollte ich mich an eine Coverversion von Ougenweide wagen. Es schien aber nie der richtige Zeitpunkt zu sein oder die richtige Konstellation dafür.
Nach dem letzten Frühjahr allerdings wusste ich: Nun würde dieses Vorhaben Gestalt annehmen wollen.

Als ich mit Lutz Demmler über mögliche Coverversionen sprach, erwähnte ich, wie üblich etwas zurückhaltend, wieder einmal Ougenweide. Und, wie so oft, erlebte ich die immer gleiche Überraschung (ich scheine eine Art renitente Unbelehrbarkeit zu besitzen, ach, was das Thema angeht…), denn Lutz zeigte sich spontan begeistert. Ougenweide war auch für ihn eine Jugenderinnerung.

Nur welchen Song wollten wir nehmen?
Ich zerbrach mir den Kopf. Er sollte natürlich möglichst ein Lieblingslied von mir sein, es sollte eine Komposition sein, die unter Beteiligung von Frank Wulff entstanden war und am besten auch noch eine Brücke zu meinem Leben schlagen.
Manchmal denkt man zu viel.
Es hätte sofort auf der Hand liegen müssen! „Bald Anders“ vereinte all diese Voraussetzungen und war auch Lutzens Favorit.

In dieser Zeit der persönlichen und beruflichen Veränderungen wurde „Bald Anders“ zum perfekten Motto, und deshalb haben wir unsere Interpretation des Ougenweide-Klassikers auch zum ersten musikalischen Lebenszeichen auserkoren. Natürlich ist es kein typisches ASP-Stück geworden, wie auch? Schließlich haben wir es nicht komponiert. Wir stellten uns ganz in den Dienst unserer Vision von unserer Version und ich muss sagen, dass ich mich hier gesanglich in Höhen aufgeschwungen habe, die dem Einen oder Anderen etwas fremd anmuten mögen.
Mir war von Anfang an klar: Olaf Casalichs tolles, unnachahmliches Organ würde ich gar nicht erst zu imitieren versuchen.

Aber wir haben uns enorm viel Mühe gegeben, und das Endergebnis kann sich meiner bescheidenen Meinung nach wirklich sehen lassen.
Und irgendwie trägt dieses Lied und die Arbeit daran nun einen Anteil daran, dass aus etwas unfassbar Traurigem eine positive Sache geworden ist, oder wie es im Liede heißt:

Wir sehen ihm nach und denken fürwahr,
wie sind all Ding' so wandelbar.
Ein jeder hat's bei sich selber gespürt,
wie er ihn an der Nas' rumführt.
So zieht Bald Anders rastlos dahin,
nach steter Wandlung steht im der Sinn.
Wir tanzen in seinem Reigen,
bald anders wird die Welt sich zeigen.

(Ougenweide)

Verwandlung spielt ja auch in meinen Liedern eine große Rolle, und so kann „Bald Anders“ als Pate für meine Rastlosigkeit und mein eigenes Bedürfnis nach „steter Wandlung“ gesehen werden.
Die Figur des „Bald Anders“ oder Baldanders kommt übrigens bei Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen in seinem „Der Abenteuerliche Simplicissimus“ vor.

Er hat mich tatsächlich so fasziniert, dass er auch in meinem Briefroman „Der Fluch“ einen Kurzauftritt haben wird.

Hier zeige ich Euch vorab die Zeilen, mit einem freudig geschmetterten „Carpe diem“:

Alles war so ungezwungen. Schwelgen in Erinnerungen
würde ich und sie auch teilen, mit Dir, lieber Adressat.
Ich gestehe unumwunden: Gern hätt’ ich noch Zeit geschunden.
Koste alle schönen Stunden aus! Befolge meinen Rat!
Wir sind alle Untertanen und Baldanders Potentat.
    Nie steht still Fortunas Rad.

Übrigens habe ich hier tatsächlich den Zusammenhang zu Ougenweide spitzbübisch angedeutet. Denn deren Live-Doppel-LP aus dem Jahr 1977 hieß wie? Genau.

Und wenn wir nun meinen Geburtstag feiern, dann erhebe ich still mein Glas auf einen, der mit seinem silbernen Rohr, seinen „Flöten“ (und unzähligen anderen Instrumenten!) durch das Land zog.

Ich würde mich freuen, ein paar Leute auf das musikalische Vermächtnis von Frank Wulff aufmerksam zu machen und ich wünsche den verbliebenen Bandmitgliedern alles erdenklich Gute.

- Asp Spreng, im März 2011


Nachtrag und Werbung:

Das Label: Bear-Family hat dankenswerterweise vor einigen Jahren die Ougenweide-LPs auf CD wiederveröffentlicht und diese kommen mit so viel liebevoll zusammengetragenen Infos und megafetten Booklets daher, dass man schon fast von ASPschen Dimensionen sprechen könnte.

Das Lied „Bald Anders“ ist übrigens auf der CD Ohrenschmaus / Eulenspiegel enthalten.

Die CDs gibt es auch bei Amazon. Die Re-Releases kann man auch direkt bei Bear Family im Online-Shop bestellen.

Ich kann nur empfehlen auch dem traumhaft schönen 96er Album (aha, er kommt doch noch darauf zurück!) „Sol“ eine Chance zu geben. Und natürlich dem letzten Album, „Herzsprung“. Anspieltipps: Das Titelstück „Herzsprung“ und „Phol Ende Uuodan“!

Informationen zu Ougenweide: www.ougenweide.eu